ABRAHAM / idsungwüssä

Vielleicht hast du Rodins Höllentor beim Kunsthaus Zürich mal genauer betrachtet. Oder aber Dantes Inferno durchgeblättert. Mit Idsungsgwüssä liefern ABRAHAM den Soundtrack dazu.
ABRAHAMs rund stündiges Machwerk stellt den (vorläufigen?) Abschluss einer dystopischen Reihe dar, welche 2018 mit Look, Here Comes the Dark! begann. Die acht nun vorliegenden Songs stellen eine Art Parallelszenerie zu Débris de mondes perdus (2022) dar, dem Zweitling der Trilogie. Räumlich verlegt in karge Leere des Alls.
Im Entstehungsprozess wählte das Quartett eine andere Herangehensweise als bei den Vorgängern. Dem Werk liegt für einmal keine eigentliche Storyline zugrunde, sondern Zeichnungen, welches von Dave verfertigt wurden. Strukturen gestalten sich insgesamt denn eher kontextuell. Songs entwickeln sich in eine Stimmung hinein, finden etwa mittig zur Ruhe, um anschliessend erneut zu expandieren. Durch den Verzicht auf festigende Elemente verbleibt Hörer/in im Ungewissen. Kein rettender Refrain, der abholt noch Thema, worauf zu bauen ist.
Hörprotokoll
Fate of Man Lies in the Stars beginnt mit Tomtom-Schlägen wie Schritte, die näher kommen. Wozu Schlagmeisters gequälter Gesang sich gesellt, begleitet von psychedelischen Gitarrenakkorden. Musik scheint im Nichts zu schweben, wohin auch immer. Wenn der Song jedoch losbricht, tut er dies direkt in dich hinein. Wohlgefühl jedenfalls hört sich anders an. Verlorenheit charakterisiert dieses erste Stück. Verzweiflung. Desillusion. Bis hinein in den sphärischen Ausklang, der sich anfühlt wie gedehnte Zeit. Einmal mehr sind wir am Ende vom Ende angelangt.
I am the Vessel and the Vessel is Me steigert sich nach einem ruhig melancholischen Einstieg in dramatisch beklemmende Stimmung hinein. Einzig Valentino Di Cabillos Bassline, die fluide am Grunde entlang spielt, sorgt für eine Art Leichtigkeit. Der Refrain des Stücks hingegen wirkt wie übers Reibeisen gezogen. Verfremdet. Wenngleich der Mix insgesamt rau angelegt ist, hört er sich dennoch differenziert und ausgewogen an.
Während Discomposite Shell geraten wir vollends in die Auflösung hinein. In Schwärze ziehende Strudel. Ströme, die reissen, dich mitziehen. Denen du gerade gar nichts entgegenzusetzen hast. Nur kurz wird dir Ruhe vergönnt, Zeit, um Gedanken zu sammeln. Erkenntnis, dass Realität zu krass, um sich steuern zu lassen.
Naked in a Naked Sky empfängt uns mit bauchigen Klängen einer Orgel. Schlagmeisters Duett mit sich selbst. Ein sachtes, durch Drums getragenes Stück. Dazu Gitarrenklänge, die ineinander wehen, dem Ganzen das Schwebende vermitteln. Mit einem Minimum an Einsatz erreichen Wierdmann und Margo Dita D'Oro ein Maximum an Stimmung. Ein Track jedenfalls, den ich mir instrumental genauso vorstellen könnte.
Suurwäut dann bringt mit dem Schweizerdeutschen eine weitere Sprache ins Spiel. Vertontes Gedicht, denke ich mir, inhaltlich werden wir an die Phase zwischen Konzeption und Geburt herangeführt. In Dialekt: Gruusig. Mit zunehmender Laufdauer gerät die Musik ins Dissonante, wird ungreifbar und verweht. Ausklang wird mit dem Instrumental En Tüüfus Tümpu geboten. An dieser Stelle darf bestimmt gefragt werden, ob nicht da und dort auf Vocals hätte verzichtet werden können.
Auf 06 00 40U bedient Dave sich des Französischen. Der Song wirkt vorderhand nahezu besinnlich, bevor schräge Klangfolgen hineinspielen, rhythmische Akzente gesetzt werden und Musik letztlich sich in Weiten verliert.
Home wird durch Tastenspiel eingeleitet, greift in der Folge vorangegangenes Melodienwerk auf und fasst sinngemäss zusammen. Ein nahezu versöhnliche Mittelteil überläuft gewaltig und gleitet in orchestrale Raserei, die das epische Finale der LP markiert. Mit einem kurzen Appendix endet das Album.
Fazit
Während gut sechzig Minuten beweisen Di Cabillo, Schlagmeister, Wierdmann und Margo Dita D'Oro bildgewaltig, dass Erhabenes nah beim Abgrund gebaut ist. Jene dem Album zugrunde liegende ausweglose Verzweiflung ist kaum auszuhalten. Der sublime Hinweis, dass hinter jedem Ende sich ein Beginn verberge (mit wieder einem Ende), hilft auch nicht viel weiter. Auf Idsungsgwüssä gehen ABRAHAM noch einen Schritt weiter, indem sie einerseits dem Strukturellen zu grossen Teilen entsagen, andererseits jeglichem Harmoniebedürfnis eine Absage erteilen. Nicht, dass dem Harmonischen gänzlich entsagt wird, ganz im Gegenteil, sondern dass dieses mit Mitteln der Verfremdung unschädlich gemacht wird. In Dissonanz überführt zum Beispiel oder soundtechnisch übers Reibeisen gezogen.
Der Wert von Idsungsgwüssä liegt für mich in dieser Art Überrealismus, welchem wir uns in der Regel gewissermassen sinnvoller Weise verschliessen.
Ökologisch betrachtet, politischen kontextualisiert, der gesellschaftlichen Kargheit wegen oder aber dem ganzen Haufen zusammen. Kunst muss nicht zwingend gefallen. Darf auch mal ernst sein. Schmerzen vielleicht. Und wer sagt denn, dass Metal nichts mit Kunst zu tun haben soll?
Text: C. Sturzenegger
HeAvYmeTaL.ch ist ein gemeinnütziger Verein, der die Schweizer Metalszene nach Kräften unterstützt. Falls du einen Beitrag leisten willst: Von der eigenen Mitgliedschaft bist du DIESEN EINEN KLICK entfernt.
Verspürst du gar Lust, dich redaktionell zu betätigen, schreibst du uns am besten.